5. arriba Symposium 01.04.2022
Unter dem Titel „Die Technik der medizinischen Entscheidung“ fand das – inzwischen bereits traditionell zu nennende – arriba-Symposium in Berlin statt. Christoph Heintze (Charité Berlin), Attila Altiner (Universitätsmedizin Rostock) und Norbert Donner-Banzhoff (Universität Marburg) moderierten die hybride Veranstaltung. Dabei wurde diskutiert, ob bzw. wie digitale Instrumente Entscheidungen über Diagnose und Therapie unterstützen können. Die bisherigen Entscheidungshilfen lassen hier einen Spielraum – oder eine Leere? – , die dem Gespräch und dem Abwägen von Ärztin und Patientin überlassen bleibt. Inzwischen gibt es die Möglichkeit, Präferenzen nicht nur zu erfragen, sondern auch aus persönlichen und Verhaltens-Kriterien abzuleiten. Ist dies ein sinnvoller Weg? Oder müssen wir uns wegen möglicher Manipulation und Bevormundung sorgen? Die Komplexität moderner medizinischer Versorgung macht es nicht einfacher: bei mehrfach chronisch kranken Menschen ist es ein „kleines Dorf“, das sich arbeitsteilig bemüht. Wo soll hier Shared Decision-Making (SDM) gepflegt werden?
Fülöp Scheibler (Share-to-care) berichtet von den Erfahrungen, SDM im Universitätsklinikum Kiel zu implementieren. Dies erforderte intensive Bemühungen (z.B. Schulungen, Entwicklung zahlreicher Entscheidungshilfen) und einen langen Atem, aber ist nicht unmöglich. Wichtig ist, sowohl die Patientinnen eines Krankenhauses bzw. Bürgerinnen direkt anzusprechen (z.B. mittels Infotainment im Krankenhaus) wie auch die Leitungen von Kliniken einzubeziehen. Alle Betroffenen müssen langfristig eine Beteiligung an Entscheidungen und die dazu erforderlichen Informationen einfordern. Die Implementierung gelingt nur – wie kaum anders zu erwarten – sehr unterschiedlich. Aber es gibt „Nester“, in denen an dem SDM-Projekt weitergearbeitet wird, unterstützt durch ein Nachfolge-Projekt und gefördert durch die Techniker Krankenkasse. Scheibler hält es für sinnvoll, die SDM-Philosophie auf die gesamte Einrichtung auszudehnen; eine Konzentration auf einzelne Entscheidungs-Knoten sei weder realistisch noch sinnvoll. Der Fragebogen, den Patientinnen bei Entlassung ausfüllen, kann und soll das Ausmaß von praktiziertem und empfundenem SDM widerspiegeln. David Klemperer (Berlin) wies in der Diskussion auf den Interessenskonflikt hin, in dem sich Krankhäuser häufig befinden. Die Entgelte (Fallpauschalen) hängen von der Anzahl der Prozeduren ab; SDM und ergebnisoffene Beratung können dabei den Umsatz beeinträchtigen. Nur wenn eine Klinik sehr gesucht ist (Warteliste), könne sie diesen Konflikt abmildern oder vermeiden.
Caspar Chorus (Universität Delft/NL) arbeitet an Behavioural Aritificial Intelligence (BAIT), um Entscheidungen auch im Gesundheitswesen zu unterstützen. Er erläuterte den Unterschied von algorithmischen, regel-basierten Systemen einerseits, und etwa neuronalen Netzen, die aus zahlreichen Fällen „lernen“. Erstere sind rigide, aber transparent. Letztere sind flexibel und bieten unendliche Möglichkeiten, aber sie legen nicht offen, wie sie zu einer Entscheidung gekommen sind („a mess“). An konkreten Beispielen (z.B. Priorisierung der Aufnahme auf die Intensivstation zur Zeit der Pandemie; OPs an Neugeborenen) erläutert er, dass multivariate Systeme eine Hilfe zur kritischen Selbst-Reflexion sein können: welche Gesichtspunkte spielen bei unserer Entscheidung eine Rolle, womöglich Geschlecht oder ethnische Zugehörigkeit? Sind wir nach Verabschiedung des Behandlungs-Pfades besser geworden? Er diskutierte unsere „twisted relation“ mit digitalen Verhaltens-Modellen, wo Autonomie und Orientierung, Information und Freiheit dialektisch miteinander verwoben sind, und wo die Zukunft, also die Frage: welchen Stellenwert werden diese System haben, noch offen ist.
Dietmar Frey (Leiter des Charité Lab for Artificial Intelligence in Medicine) entwickelt prognostische Instrumente für den akuten Schlaganfall. Diese greifen auf demografische Daten, Laborwerte, aber auch Bildgebung einschließlich darauf basierender Modellierungen der cerebralen Durchblutung zurück. Validierungen mit Versorgungsrelevanz stehen noch aus, ebenso der Vergleich mit einfachen klinischen Entscheidungsregeln.
Christiane Muth, die die Allgemeinmedizin an der neu gegründeten medizinischen Fakultät der Universität Bielefeld vertritt, stellt die zuvor diskutierten Instrumente und Strategien in den Kontext der Betreuung chronisch kranker Menschen. Dabei orientiert sie sich an dem von ihr entwickelten und vorgeschlagenen Ariadne-Prinzip. Dieses stellt die Vorstellungen und Präferenzen der Patientinnen in den Vordergrund und versucht in einem zirkulär wiederholten Prozess, daraus relevante und realistische Behandlungsziele zu formulieren. Dies wird durch umfangreiche empirische Untersuchungen zu Patienten-Präferenzen untermauert.
Norbert Donner-Banzhoff (Universität Marburg; arriba-Genossenschaft) stellt das neue arriba-Modul zum Diabetes mellitus Typ 2 vor. Dieses kalkuliert aus Lebensalter, Komorbiditäten sowie Präferenzen zur langfristigen Prävention von Organkomplikationen und zur Akzeptanz von Behandlungs-Aufwand einen Vorschlag zur Intensität der antidiabetischen Therapie, ausgerichtet an einem individuell angestrebten HbA1C-Wert. Dieses Modul bricht mit der arriba-Tradition insofern, als hier ein einzuschlagender Weg vorgegeben wird, wenn auch unter maximaler Transparenz (Abbildung der Inputs) und der Aufforderung an Ärztin und Patientin, den Vorschlag des Systems mit den eigenen Einschätzungen kritisch zu vergleichen. Entsprechend kontrovers verläuft die anschließende Diskussion, auch wenn die Einschätzung überwiegt, dass dies ein sinnvoller Weg zur Bewältigung eines Praxis-Dilemmas ist.
Veranstalter
arriba eG gemeinnützige Genossenschaft (Prof. Norbert Donner-Banzhoff) Gesellschaft für patientenzentrierte Kommunikation gGmbH (Prof. Attila Altiner) Institut für Allgemeinmedizin, Charité Universitätsmedizin Berlin (Prof. Christoph Heintze)